Inhalt


Sagen und Geschichten

Der Türkenstein von Rheden

Im Schatten einer breiten Linde des hochgelegenen Parks zu Rheden bei Brüggen steht ganz in der Nähe des ehrwürdigen Ahnenfriedhofs ein schlichter Gedenkstein. Jeder Fremde hemmt seinen Schritt und liest die kurze Inschrift „A.v.R. 1564“. Die Sage aber weiß mehr und berichtet:

Vor vielen Jahren zogen auch aus dem Geschlechte der Rheden drei Ritter in den Kampf gegen die Türken. Zwei von ihnen blieben verschollen und wurden irgendwo in weiter, fremder Erde begraben. Um den dritten, den jüngsten, dem der Vater zwölf Pferde und eine größere Anzahl Knechte mitgegeben hatte, bangte Antonius von Rheden in stiller Sorge. Darum wanderten seine Gedanken immer wieder hinweg über die heimatlichen Fluren, über die grünen Wiesen, die fruchtschweren Felder und das Silberband der Leine in die fernen, fremden Gefilde des großen Kampfes der Christen gegen die Türken.

Händler und Kaufleute aus Hannover waren in Geschäften in der Türkei und deren Hauptstadt Konstantinopel gewesen und hatten im Hafen Sebant, den Sohn, angetroffen. In Ungarn war Sebant mit sechzehn anderen Deutschen gefangen genommen, auf ein Schiff gesteckt und als angeketteter Gefangener nach der Türkei gebracht. Soldaten verkauften den Deutschen als Sklaven an einen türkischen Bauern, der ihn vier Jahre lang in harter Feldarbeit ausnützte. Kein Wunder, dass Sebant bei günstiger Gelegenheit floh. Er wurde aber wieder eigefangen und zum zweiten Male als Sklave verhandelt. Diesmal war das Los nicht allzu hart. Als Aufseher und Hofmeister verbrachte er einige Jahre und wurde dann frei. Gar mächtig zog ihn das Heimweh nach dem unvergessenen Leinetal.

So bestieg Sebant im Hafen zu Konstantinopel ein Schiff, um über Venedig nach der Heimat zu gelangen. Aber auf dem Meere lauerte ein neues Missgeschick. Ein gewaltiger Sturm trieb das hilflose Fahrzeug weit ab bis an die Küste der Insel Rhodos. Christliche Ritter von Rhodos kaperten das türkische Schiff und machten aIIe Insassen zu Gefangenen. In Sebants Herz erlosch der letzte Hoffnungsfunke. Statt der Heimkehr zum wartenden Vater folgte ein schwerer Dienst als Galeerensklave, und Antonius von Rheden, dessen Haar von allem Sorgen und Zagen weiß geworden war, wusste von diesem harten Schicksal. AlIes hatten ihm die Kaufleute berichtet, und der Gruß des Sohnes stärkte den Willen zum Leben, Harren und Hoffen.

Darum musste auch Henner Grimme, des Antonius zuverlässigster Dienstmann, mit einem Bittbrief des Herzogs von Braunschweig auf den Weg nach Rhodos. Vielleicht würden das Schreiben und ein reichliches Lösegeld den christlichen Edelmann aus Schmach, Not und Heimweh freimachen. Und Henner Grimme zog die große Heerstraße über Göttingen, Münden und Kassel nach Süden, kam am Rheinstrom hinauf bis Speyer. Ehrliche Kerle, Kriegsknechte und Fuhrleute, Gesindel und Tagediebe, Ritter und Fürsten bevölkerten den Weg, auch ein einsamer Wanderer mit langem Haarschopf und in zerlumpter Kleidung begegnete ihm. Henner Grimme gewann sofort Vertrauen zu ihm und erzählte ihm von seinem Auftrage und dem weiten Wege nach Rhodos. „Guter Freund“, entgegnete der Fremde, „kehret um, den ihr sucht, der ist nicht mehr auf Rhodos, und wenn ihr ihn sähet, würdet ihr ihn noch wiedererkennen?“ – „Wenn ich nur seinen linken Arm sähe, so wollte ich gleich wissen, ob er es ist“, erwiderte Henner. Da machte der Fremde seinen linken Arm bloß. Henner aber fiel im gleichen Augenblick vor ihm nieder und rief: „Ihr seid Sebant von Rheden, meines Herrn Sohn! Gottes Güte sei hochgelobt!“ Nach Norden zogen nun die beiden gemeinsam die Straße, und die Fragen Sebants nach Vater und Mutter und der Heimat nahmen kein Ende.

Auf Brunstein bei Northeim kehrte Sebant bei dem Herrn von Oldershausen ein und wurde gastlich aufgenommen, Henner Grimme aber eilte voran und brachte dem wartenden Vater die freudige Kunde. Da strahlte zum ersten MaIe seit langem wieder sonnige Freude von dem versorgten Gesichte des Alten. Und am anderen Morgen machte er sich auf den Weg von Rheden nach Brüggen. Von fern her sprengten zwei Reiter heran, von denen der erste aus dem Sattel sprang und den alten Vater Antonius in die Arme schloss. Der aber konnte vor Freude kein Wort sagen, sein Herz war zu klein und zersprang im GIück des Wiedersehens. So hielt der Heimkehrer den toten Vater in seinen Armen und die Freude paarte sich mit tiefer Trauer.

Sebants Sohn aber ließ an der Stelle, wo Antonius starb, einen Gedenkstein aufrichten. Heute steht dieser Stein im Park zu Rheden (er wurde später auf den Kirchhof versetzt, Anm. d. Red.); er heißt der Türkenstein und kündet von Sehnsucht und Heimweh, von Sorgen und Hoffen und von einer Freude, die ein Menschenherz zerbrach.