Die Geschichte von der Bierprobe
Wie Ihr wisst, wurde die Stadt Gronau gegen Ende der Stiftsfehde, am 2. Juni 1522, von den welfischen Truppen geplündert, geschleift und „ausgepuchet“, was bedeutet: bis auf den Grund niedergebrannt. Zwar erwies sich der neue Landesherr, der Herzog Erich, als ein nicht ungütiger Helfer. Aber es vergingen doch fast vier Jahre, ehe die Gronauer daran denken mochten, den alljährlichen Frühjahrsmarkt am Sonntag Oculi (3. Sonntag der Fastenzeit, Anm. d. Red.) wieder einmal mit fröhlichem Trubel zu begehen und nicht nur zur Stillung der bittersten Notdurft des Leibes.
Schon war der Ruf des kommenden Festes lockend weithin gedrungen, als sich eine Nachricht verbreitete, die der Stadt an der Leine den anziehenden Geruch eines frischen Fassanstichs verleihen musste. In Gronau sollte ein Wettstreit um das beste Bier ausgetragen werden! Da würde es manchen Freitrunk und viele Trinkfreiheit geben.
Tatsächlich suchte die Stadt Gronau für das neue Brauhaus an der Blanken Straße einen Braumeister.
Das war ein angesehenes und begehrtes Amt. Denn wer dazumal Bier trinken wollte – und das wollte das ganze trinkfreudige Geschlecht, dem Branntwein und Kaffee noch unbekannte Dinge waren, mithin selbst die Frauen ihren Durst am Biere löschen mussten – der hatte selten eine andere Wahl, als das Gebräu seines Ortes, weil man streng auf seine Gerechtsame hielt und nicht einmal aus dem Nachbardorf eine zollfreie „Einfuhr“ duldete.
Darum ließ sich denn auch der Rat die Auswahl des tüchtigsten Mannes, von dem das Behagen in den Familien und der Ruf der Stadt in allen Landen abhing, den Schweiß durstiger wie undurstiger Mühe nicht verdrießen. Immer wieder war geprobt worden und erst nach gründlichem Prüfen, hatte man den alteingesessenen Bürger Henning Thiele, dessen Braunbier angenehm die Kehle hinunter rann, auf der Zunge nicht brannte, noch die Eingeweide quälte, für den Posten ausersehen. Im letzten Augenblick aber meldeten sich noch zwei Bewerber, die nicht abzuweisen waren, da auch sie auf das Gronauer Heimatrecht pochen konnten. Der eine war Melchior Brandes, der machte geltend, er habe nicht nur in Einbeck das Geheimnis der berühmten dortigen Braukunst gelernt, sondern er bringe sogar aus der bayrischen Stadt München die ganz neue Weise mit, ein köstliches und gar viele Monde lang haltbares Bier herzustellen.
Der andere war so lange außer Landes gewesen, dass er erst durch Zeugen erhärten musste, er sei der Sohn des weiland Gronauer Brauers Hannes, den man einst kurzweg Brauhannes nannte, weshalb er selbst in der heimischen Sprache Broyhan heiße, Cord Broyhan.
Was er in der großen Seestadt Hamburg als Brauknecht erfahren und geübt habe, sei der höchste Genuss für jede feinschmeckerische Zunge.
So wurde den beiden im Brauhaus Platz eingeräumt und alsbald begann dort unter verschwiegener Aufsicht ein geheimnisvolles und eifersüchtig voreinander verborgenes Werken, ein Mälzen und Kochen, Maischen und Würzen und Gären, bis jeder etliche Fässer seines Gebräus verspundet und versiegelt bereit hatte für den Tag des Wettstreites.
Denn öffentlich wie Hexenverbrennungen und Schaustücke vollzogen sich nach der Sitte der Zeit auch solche Trinkproben und sie verlangten keineswegs den Mut und die schwächste Standhaftigkeit.
Inzwischen gingen die drei Bewerber mit der Mine erhabener Gleichgültigkeit umher und taten doch leutselig gegen jedermann, denn man konnte ja nicht wissen, wen das Los zu Bierprobern bestellen würde.
Der Sonntag Oculi des Jahres 1525 kam und es war ein sonniger, warmer Märzentag, an dem der Marktplatz widerhallte von dem Geschrei der Händler, Gaukler und fahrenden Leute und dem summenden und jauchzenden Gebrodel der Käufer und Schauer. Doch während sich sonst gegen den Abend die Fremden zu verlaufen pflegten, harrte diesmal eine dicht gedrängte Masse von Menschen in der Nähe des Rathauses, um mitzuerleben, wie sich die Häupter der Stadt für das allgemeine Wohl opferten.
Wirklich war es ein Opfer, was da von ihnen gefordert wurde. Auf einem erhöhten hölzernen Gerüst vor dem Rathaus, allem Volke sichtbar, mussten sie die Bierprobe leisten. Und die bestand nicht etwa darin, dass man aus drei Bechern mit den verschiedenen Bieren ein paar Schlucke tat und dann seinen Spruch abgab: „Dies schmeckt am besten, jenes am geringsten!“ Nein, das Urteil des Geschmacks war das letzte und nicht einmal wichtigste, denn der gewählte Braumeister würde auf Wunsch immer auch das gewohnte Bier zu liefern haben. Worauf es jetzt ankam, das war, festzustellen, welches der drei Gebräue am meisten erheitere und am wenigsten köpfe.
Kaum hatte die Vesperglocke ihren letzten Schlag hinausgehallt, da erschien der Bürgermeister auf dem Gerüst und verkündete die genauen Bedingungen des Wettstreites: Die Ratsherren und die vom Los bestimmten Bürger, insgesamt siebenundzwanzig Männer, würden ebenfalls durch das Los in drei Gruppen eingeteilt, deren jede nur eins der Biere bekomme.
Alle drei Gruppen aber müssten bis Mittenacht die gleiche Menge trinken. Dann habe jeder einzeln einmal auf dem äußersten Brette des Gerüstes entlangzugehen und von welchem Tisch die wenigsten fielen oder stolperten, dagegen auf neckende Zurufe am gleichmütigsten oder heitersten antworteten, dessen Bier habe den Sieg errungen.
Die Losmänner walteten ihres Amtes, die erwählten Bürger bestiegen die Bühne der Unbestechlichkeit, nahmen zusammen mit den Ratsherren an ihren Tischen Platz, die Ratsboten schenkten ein und - der große Kampf mit den Geistern des Gerstensaftes begann. Zögernd zuerst und nicht immer wohlwollenden Gesichts, da die beiden neuen Getränke durchaus nicht jedem der Probenden behagten, dann aber doch kräftig und zügig widmeten die Männer sich ihrer Aufgabe und vergaßen, je länger desto mehr, den Ernst ihrer Pflicht und erfüllten sie, als sei es ein Vergnügen. Auch die Menge unten, die mit neidischen Scherzen und boshaften Fragen nicht sparte, erhielt aus anderen Fässern von den Bewerbern Henning Thiele, Melchior Brandes und Cord Broyhan manche Kanne voll eingeschenkt und sie kreiste dann unter den Zuschauern, wobei keiner versäumte, bevor er ansetzte, den Richtern auf der Bühne ein schadenfrohes „Wohl bekomm’s“ zu widmen.
Es sei ferne von uns, die Würde dieses Biergerichts unsrer Vorfahren durch schnöden Spott verletzen zu wollen. Wir (übergeben) übergehen daher die Einzelheiten der weiteren Abendstunden, die leider immer mehr von jener Würde einbüßten. Die Schuld daran aber trugen nicht unsere Ahnen. Sie wussten ihre Fassungskraft genau einzuschätzen, solange es sich um vertraute Getränke handelte. Dem Neuen gegenüber jedoch waren sie ohnmächtig. Das zeigte sich, als- die Szene ähnelte keineswegs mehr einem Tribunal- die Turmglocke über den Häuptern der Zechenden die Mitternacht dröhnte. Mit stürmischem Jubel begrüßten die Zuschauer die Stunde der Entscheidung.
Der Bürgermeister, der wohl hier und da einen Trunk tun, nicht aber die Probe mitmachen durfte, damit wenigstens einer die Ergebnisse überwachen und zu Urkund nehmen könne, trat vor und rief mit lauter Stimme die Bierrichter auf das Brett der Versuchung. Doch siehe da: nur vierzehn konnten seinem Rufe folgen. Die das neue Lagerbier nach Einbeck- Münchener Art getrunken hatten, lagen wie von einem bajuwarischen Faustschlag gefällt, auf und unter ihrem Tische und hätten wahrscheinlich nicht einmal die Posaunen des Jüngsten Gerichts ohne besondere Bemühungen der Erzengel vernommen.
Ihre Niederlage bedeutete auch die Niederlage des untergärigen Lagerbieres. Es hat sich davon erst nach Jahrhunderten erholen und in Niedersachsen durchsetzen können.
Nun aber geschah etwas Unerwartetes. Indes die Zecher des heimischen Braunbieres schwankend zwar, aber doch mit zweidrittel Mehrheit und ziemlich stumm gegenüber den zum Sturze ermutigenden Rufen des Volkes den schmalen Weg am Rande des Abgrundes zurücklegten, hatten sich die neun Vertilger des Broyhan-Bieres an die Hand gefasst und liefen, noch ehe der letzte Braunbierler ganz am Ende angelangt war, in lachender Kette zweimal den gefährlichen Weg, ohne das einer auch nur stolperte. Ihr Sprecher verkündete mit leichter Zunge, dass sie alle sicherer zu Fuß seien, als zuvor und gar nicht wüssten, ob sie das Trinken nur geträumt hätten.
Einen Augenblick herrschte verdutztes Schweigen.
Dann brach die Menge in den entrüsteten Schrei aus: „Weg mit Broyhan! Dann lieber Melchior-Bräu!“ Und alle versicherten, dass man zwar nicht gern wie eine Leiche daliegen wolle, dass aber ein Bier, von dem man nichts merke, kein Bier sei und sein Brauer sei ein Pfuscher.
Cord Broyhan sprang auf die Bühne und wollte beruhigen. Doch man gönnte ihm das Wort nicht. Kannen und Krüge drohten ihm und so musste er schimpflichen Abgang nehmen, indes die Gronauer ihrem Henning Thiele den Sieg zuerkannten.
Während der Schwarm sich allmählich zerstreute, schüttete Cord Broyhan in grimmigem Spott den Rest seines Gebräus in die Tränkeimer der Pferde, die am Marktplatz und in den angrenzenden Straßen ihrer Herren warteten. Sie tranken es mit spürbarem Wohlbehagen und keines wies am anderen Tage irgendwelche Zeichen der Unlust auf.
Als am Morgen nach diesem denkwürdigen Sonntag, später als sonst, die Stadttore geöffnet wurden, fanden die Wächter daran Zettel befestigt, die sie eilends zum Bürgermeister trugen. Der las staunenden Auges die Worte:
„Süs drinkt dei Minsch un siupt dat Pärd, to Gronow is et ümmekiärt.“
Danach hörte man in Gronau von Cord Broyhan erst wieder, als er am 31.Mai desselben Jahres 1526 in Stöcken bei Hannover ein verbessertes Bier braute, dessen Ruhm rasch durch das Reich eilte, dem Erfinder und dem Welfenlande viel klingende Münze einbrachte und überall nachgeahmt wurde. Da hätten die Gronauer den berühmten Mann gern wieder in ihren Mauern gehabt, aber er verleugnete seitdem seine Vaterstadt und ließ es zu, dass man ihm Stöcken als Geburtsort zuschrieb.
Da die Gronauer jedoch nicht nachtragend sind, schon gar nicht über Jahrhunderte hinweg, ehren sie noch immer das Andenken ihres verlorenen Sohnes. Seit langem trinken sie, wenn irgend möglich, bei ihren Gildeversammlungen zunächst „Broyhan“ oder ein ähnliches obergäriges Weißbier. Und neuerdings wird sogar eine Straße Broyhan’s Namen tragen, in enger Nachbarschaft zu einer anderen, die nach dem nicht minder berühmten naturheilkundigen Schäfer Ast geheißen ist, einem unbezweifelbaren Sohne der Stadt Gronau.
Der eine schenkte der Menschheit durch ein durstlöschendes, aber nicht umwerfendes Getränk Freude, der andere aus ihren Nackenhaaren Gesundheit. Freude und Gesundheit – wer wollte deren Bringer nicht ehren und sei es auf offener Straße!
(Gekürzte Abschrift mit ausdrücklicher Genehmigung der LDZ/Müller)