Inhalt

Auf den Platten

Nach der Saisoneröffnung des Jo-Bades, ließ Peter ein paar Tage verstreichen, bis er sich die Schülerjahreskarte kaufte und sein Schwimmtraining von der Halle ins 50-Meterbecken verlegte. Wenigstens sollte die Sonne scheinen, damit er sich auf den Platten aufheizen könnte. In diesem Jahr 1972 zögerte fast drei Wochen, denn er hatte beschlossen, mit dem Training aufzuhören. Die vom Chlor geröteten Augen und eine ausgetrocknete Haut waren nicht die einzigen lästigen Begleiterscheinungen. Seine Zeiten auf der Kurzstrecke waren einfach nicht so bahnbrechend, dass Irgendjemand auf ihn aufmerksam wurde, in einen Kader aufnahm und in ein Trainingslager steckte. Die Noten in der Schule waren eben so nicht berauschend, und dann fehlte nachmittags Zeit. Um im Café Wülfel die Clique zu treffen. Und die Zensuren! Der Numerus Clausus würde sonst total seinen Weg als Mediziner, Psychologe oder Biologe versperren.
In der Oberstufe standen die Desoxyribonukleinsäure, die Determinanten der Westdeutschen Restauration oder die Integralrechnung auf dem nachmittäglichen Lernprogramm. Abends hatte er das Lesen und die Kinofilme entdeckt: Camus, Brecht und Benn und als Filme „Die Blechtrommel“, „Spiel mir das Lied vom Tod“ oder „Giacomo Casanova“.
Aus einigen Schüler-AG’s, wie der Film-AG, hatten sich kleine Cliquen entwickelt, und daraus wiederum einige Pärchen, die sich in der Fußgängerzone oder im Café Wülfel demonstrativ präsentierten, Händchen haltend und knutschend.
Doch Ende Mai war es endlich sonnig und warm. Er schwang sich aufs Fahrrad, die Badesachen auf dem Gepäckträger verzurrt, raste über das Kopfsteinpflaster der Goethestraße, am Theater vorbei zum PVH, dann die Wollenweber entlang und zum Brühl runter, ließ das Gefängnis links liegen, bremste erst auf der Fußgängerbrücke über der Innersten und suchte sogleich einen sicheren Platz, um sein Fahrrad anzuschließen.
Das Schwimmbad war von Holzbauten umrahmt, die einem Zille-Milieu das Wasser gereicht hätten, dann die Steinhütten, die erst nach dem Krieg den Aufbauwillen von Schwimm- und Wassersportvereinen repräsentierten, in der Mitte ein 50-Meterbecken mit 5er Sprungturm aus Beton. Alles Jahr für Jahr mit Farbe aufgefrischt und konserviert: das Becken, das mehr als einen halben Meter tief eingelassen war, die weiß gestrichenen Haltestangen, die einfachen Stahlrohrbegrenzungen, und die Holzfassaden der Umkleideräume, dazwischen die grauen Platten.
Der Platz auf den Betonplatten zwischen Eingang, Becken und Umkleide war Liegeareal und Weg zugleich. Er war begehrt, denn er war zugleich Jägerstand, Orientierungsbasar und Balzlichtung, aber auch eine ideale Aufwärmfläche nach dem Ausdauertraining.
Es gab zwei halboffene Umkleideräume mit Sichtschutzbrett im Eingangsbereich, aber ohne Tür – man konnte dort wahnsinnig schnell und unkompliziert die Badehose wechseln, gleichzeitig direkt auf die Liegefläche schauen, und sich gemächlich abtrocknen.
Bei Sonnenschein zog er vor, sich erst nass auf die hellgraue Holzbank zu setzen, sich an die Wand zu lehnen und für einige Minuten die Augen zu schließen. Danach suchte er ein freies Plätzchen zwischen den mit dünnen Handtüchern markierten Parzellen.

Er hatte Tina vom letzten Jahr in Erinnerung. Er war total abgeblitzt, und mit den Worten, „gibt dir doch nicht soviel Mühe, ich gehe mit Thomas“ für den Rest der Saison ruhiggestellt. Über Winter hatte er sie nirgends getroffen, aber auch nicht nach ihr gesucht. Nun stand sie seit einigen Tagen mal am Begrenzungsgitter zum Wasserbecken, mal hockte sie mit einer Freundin auf den Platten.
Sie war immer noch grazil mit langen schlanken Beinen, fast so groß wie er selbst. Zuerst dachte er, dass er wohl einfach zu klein für sie wäre, und nie in beschützender Weise den Arm um sie legen könnte.
Ihr Thomas vom letzten Jahr war so ein intellektueller Cafétyp gewesen, szenemäßig up-to-date, aber unsportlich. Peter dagegen benutzte nie die Badeleiter, sondern hievte sich jungrobbenmäßig aus dem Becken: fasste mit seinen schmalen, langen Fingern auf den Betonrand, zog sich spielend leicht hoch, setze mit dem Fuß nach, und schon zog er durchs Fußbecken an der kalten Dusche vorbei, über die Platten zur Holzbank. Er wählte die Stelle so, dass zwar ein gewisser Abstand zu Tina am Gitter blieb, er dennoch, quasi von alleine in ihr Blickfeld gelangte. Natürlich tat er anfangs so, als würde er sie völlig ignorieren.
Bislang war Thomas nicht aufgetaucht, und auch kein anderer Kerl tingelte mit ihr herum.
Beim Gang von der Umkleide zum Becken entschloss er sich, wenigstens mit einem kurzen „Hallo“ ihren Blick aufzufangen, aber sie hatte sich hinter einer Sonnenbrille versteckt. Er sprang vom Startblock und begann mit einer langen Tauchphase, um dann den Rest der Bahn im Delphin-Stil zu schmettern. Zurück mit langen Brustzügen, dann wieder Delphin. Nach fünfhundert Metern schien es genug. Ganz außer Atem wollte er schließlich nicht sein, wenn er aus dem Becken kam und an ihr vorbeizog.
„Hallo Tina!“
„Hi, Peter, trainierst du immer noch, oder war das eine Einlage für mich?“
Er hasste diese entlarvende Direktheit, und konnte nur noch mit „Beides. Nur beim Schmettern wird die Bahn frei“ kontern.
„Und du willst gar nicht ins Wasser?“
„Später.“
Mit einem „na, bis dann...“ konnte er seine aufgeregte Neugier gerade noch herunterfahren, und steuerte die Umkleide an, um seine Badehose zu wechseln. Von dort konnte er sehen, dass sich Tina auf ihr schmales Handtuch auf die Platten legte. Sie hatte sich wohl diätmäßig auf die Bikinisaison vorbereitet und ihre lockigen Haare fielen ungebunden auf ihren Nacken.
Besser, wenn sie mir gleich eine Abfuhr erteilt, dann ist die Sache geklärt, dachte er, nahm seine Badsachen und näherte sich ihrem Areal.
„Hast du noch Platz für mich?“
Ohne aufzublicken antwortete sie: „Ja“.
Und bevor Peter sich ebenfalls auf den Bauch ausstrecken konnte, sagte sie: „Habe heute keinen für meinen Rücken“, und streckte ihm die Tube mit der Sonnencreme entgegen.
Bei dem Eincremen ging es nie einfach nur um den Sonnenbrand und den Rücken. Es sollten alle sehen - die unauffällig Umherblinzelnden und die zum Ausgang gehenden Bekannten aus der Clique. Natürlich war auch seine Haut empfindlich und musste vor den viel zu intensiven Sonnenstrahlen geschützt werden.
In den nächsten Tagen hatten sie Glück. Die Sonne schien viel zu stark für den frühen Sommer. Aber dann reichte ihnen das ausgiebige Eincremen ihrer Rücken nicht mehr.
Mit Bastmatte und Decke fanden sie einen neuen Platz am Ende des Jo-Bades, auf der Wiese, dort, wo das Gras wucherte, weit hinten am Zaun. An einer Stelle, die am Abend nur wenige Pärchen aufsuchten. Und ein Paar, das waren sie nun, und er hoffte auf eine lange Saison.

Frank Lähndorff