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Die Hochzeitskutsche im Toten Kolk

Erzählung und Sage von Johannes Albrecht
aus Giesen einst und jetzt, Ausgabe 8/1988 und 9/1988

An der Südwestecke des Meeres im Haseder Busch liegt der Tote Kolk. Er ist der Rest eines alten Armes der Innerste. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug seine Wassertiefe mehr als vier Meter. Da aber die Haseder jahrzehntelang immer wieder Bauschutt und Gerümpel in das Wasserloch kippten, wurde seine Fläche ständig kleiner und seine Tiefe geringer. Um dieses Gewässer schwebt ein Geheimnis. Die Sage berichtet, dass hier ein Hochzeitspaar mit Kutsche und Pferden untergegangen sei. Nähere Angaben über die Namen der Verunglückten, über die Zeit und die näheren Umstände des Geschehens fehlen.

Die folgende Erzählung will das oben angegebene Unglück verständlich machen und soll eine Ergänzung zur Sage sein.

Vor vielen Jahren, als die brutalen Horden des tollen Christian von Braunschweig plündernd durch das Stift Hildesheim und Westfalen gezogen waren und der unselige Bruder- und Glaubenskrieg kein Ende nehmen wollte, lebte auf dem Stümpelhof in Hasede ein Mädchen Namens Engel. Es hieß nicht nur so, es war auch ein Engel. Seine äußere Schönheit entsprach der inneren. Es war fleißig, hilfsbereit und fromm. Seine Eltern gehörten mit zu den Wohlhabenden des Dorfes. Da Engel einmal den Hof erben sollte, war es kein Wunder, dass viele junge Männer ein Auge auf sie geworfen hatten und sie gern geheiratet hätten. Aber Engel liebte nur einen, den guten und stattlichen Henning aus dem Nachbardorfe. Mit ihm kam sie in jeder Woche einmal zusammen. In den warmen Monaten trafen sie sich stets bei einer gefällten Eiche, dicht bei dem Toten Kolk.

So machte sie sich wieder einmal im schönen Rosenmonat Juni auf den Weg zum Stelldichein. Als sie über den Thie ging, sah sie von weitem in der Langen Straße Harm Heineke vor seinem Hof stehen, der als Soldat unter den Fahnen des tollen Christian gekämpft hatte, bis er in der Schlacht bei Stadtlohn durch einen Degenhieb über die Stirn schwer verwundet worden war. Für die Hergabe eines goldenen Messkelches war er dann von einer Marketenderin auf einem Planwagen nach Hasede gebracht und von seiner gramgebeugten Mutter gesund gepflegt worden. Aber eine breite, tiefliegende Narbe über dem rechten Auge war geblieben.

Als Engel Harms gierigen Blick auffing, wäre sie am liebsten wieder umgekehrt; denn schon oft hatte er sie in gemeinster Weise belästigt, nicht nur mit Worten. Aber dennoch ging sie tapfer weiter, kam ihm näher und näher, und dann geschah das, was sie befürchtet hatte. Er stürzte auf sie zu, ergriff ihre Hände und zerrte sie auf den Hof. Sie wehrte sich und schrie. Aber das hinderte Harm nicht daran, sie brutal wie eine Roggengarbe unter den rechten Arm zu nehmen und ihr mit der linken Hand den Mund zuzuhalten. So schleppte er sie ins Haus. In der Küche warf er sie auf den großen Eichentisch und drohte ihr, den Hals umzudrehen, wenn sie wieder anfinge zu schreien. „ Im übrigen", fuhr er fort, „brauchst du keine Angst zu haben, dass ich dir etwas antue. Ich will dir nur etwas zeigen. Aber lauf ja nicht weg!"

Er ging zu einem Versteck, das sich in der Mauer neben dem Rauchfang befand, und holte seine geraubten Schätze hervor: silberne Teller, Schalen und Leuchter sowie goldene Kelche und eine verbogene, mit Edelsteinen verzierte goldene Monstranz. Zum Schluss zeigte er Engel, die mit starrem Blick und offenem Munde neben den Schätzen saß, einen großen Lederbeutel mit Silbermünzen, die er grinsend auf dem Tisch ausbreitete.

Dann drückte er dem Mädchen einen großen Taler in die Hand und sagte stolz: „Da, lies einmal! Dieses Stück habe ich persönlich vom Herzog bekommen wegen meiner Tapferkeit."
Engel musste mehrmals die Münze drehen, bis sie die Umschrift entziffern konnte: Christian, Gottes Freund, der Pfaffen Feindt. Entsetzt warf sie das Silberstück auf den Tisch; denn sie hatte gehört, dass Münzen mit dieser Umschrift aus dem Reliquienschrein des hl. Liborius in Paderborn geprägt worden waren. Empört sprang sie auf und schrie: „Du Kirchenschänder! Warum zeigst du mir die heiligen Geräte und die Münzen? "
„Alles, was du hier siehst, ist meine schwer errungene Kriegsbeute, und diese Schätze lege ich dir zu Füßen, wenn du mich heiratest. Das halbe Dorf könnten wir dafür kaufen, und du würdest darin wie eine Fürstin in Samt und Seide gehen und ..."
„Und später in der Hölle landen", unterbrach Engel den Redeschwall und fuhr dann fort: „Ich will dich nicht als Mann und will auch deinen Reichtum nicht. Deine tiefe hässliche Narbe auf der Stirn schreckt mich wenig. Dein irrer Geist, deine Rohheit und Herzlosigkeit sind es, die Angst und Entsetzen in mir hervor bringen. Mein Gott, was bist du nur für ein Mensch! - Dich zu heiraten, nein, das kannst du von mir nicht verlangen! Nie!“

Harms Gesicht war bei diesen Worten dunkelrot angelaufen. Seine Hände fingen an zu zittern, und dann sagte er mit schneidender Stimme:„Nun gut! Du willst also nicht meine Frau werden. Aber ich schwöre dir: den Henning kriegst du auch nicht!" Kaum hatte er seine Drohung beendet, da öffnete sich die Tür, und herein kam Harms Vater, ein rechtschaffender Mann, der im Dorfe großes Ansehen genoss. Er war noch größer und stärker als der Sohn.
„Was ist denn hier los?" fragte er mit grollender Stimme. „Hast du mal wieder Engel belästigt? Warum hast du deine verfluchte Kriegsbeute aus dem Versteck geholt? Glaubst du, dass du damit Engels Liebe erkaufen kannst?" Auf alle diese Fragen bekam er keine Antwort. Harm guckte wütend seinen Vater an und sagte schließlich:„Alles, was hier steht und liegt, habe ich ehrlich nach Kriegsrecht erworben."
Ein bitteres Lachen kam aus dem Munde des Vaters. Dann wiederholte er ironisch die Worte des Sohnes:„Nach Kriegsrecht erworben." Und schreiend fuhr er fort: „Und wie viele Menschen mussten dafür sterben? Mauere deine mit Blut erworbenen Schätze wieder ein! - Erzähle nie wieder einem Menschen etwas von deiner Kriegsbeute, damit es dir nicht so ergeht wie den bedauernswerten Leuten in Westfalen. Denn wisse, Pappenheims Truppen sind im Anmarsch. Vor ein paar Tagen sah man schon seine Vorhut auf dem Osterberg. Der Krieg rückt wieder näher. Wer weiß, wann die Soldaten nach Hasede kommen, um zu morden und zu plündern. Bei dir werden sie dann eine fette Beute machen - natürlich ehrlich und nach Kriegsrecht.“

Harm brachte ohne Widerrede die Gold- und Silbersachen in das Versteck zurück. Sein Vater legte den rechten Arm um Engels Schulter und sagte:„Geh nach Hause! Vergiss, was du hier gehört und gesehen hast. Ich würde viel dafür geben, wenn du meine Schwiegertochter werden könntest. Aber Harm darf nicht heiraten. Seine Soldatenzeit bat ihn verdorben und seine Kopfverletzung seinen Geist verwirrt. Er ist Schuld am Tode seiner Mutter und wird durch sein brutales Wesen auch die Frau in den Tod treiben, die ihn heiratet. Geh nun!" Und fast unhörbar fügte er hinzu: „Bete für uns!"

Mit Tränen in den Augen verließ Engel den Hof. Auf der Straße blieb sie einen Augenblick unschlüssig stehen und lief dann eilig dem Haseder Busch zu.
In dieser Zeit setzte Harm mit einem Kahn über die lnnerste und schlich durch dichtes Weidengestrüpp zum Toten Kolk.
Als Engel auf einem Wildpfad sich dem alten Innerstearm näherte, kam Henning ihr schon entgegen, nahm sie herzlich in die Arme und fragte:„Warum kommst du denn so spät? " Das Mädchen fing an zu weinen und erzählte dann stockend, was sich zugetragen hatte. Henning bemitleidete Engel und versuchte, sie aufzumuntern. Aber es gelang ihm nicht.
Beim Toten Kolk angekommen, setzten sie sich auf den Eichenstamm. Er legte seine Arme um ihre Schultern, und sie lehnte ihren Kopf an seine Brust. Sie schwiegen und lauschten dem Gesang der Vögel, bis auf einmal eine eigenartige Stille eintrat. Statt der Vogellieder hörten sie nun ein unheimliches Knacken und Rascheln im nahen Unterholz.

„Ich habe Angst", flüsterte Engel und schmiegte sich noch fester an ihren Freund. „Du brauchst keine Angst zu haben", versuchte er sie zu beruhigen, „ich bin ja bei dir. Ich werde dich ...“ „Beschützen" konnte er nicht mehr sagen, denn der Totschläger, der auf seinen Kopf niedergefahren war, hatte sein Lebenslicht zum Erlöschen gebracht. Blut trat aus Mund und Nase, und entseelt sank Henning auf Engels Schoß. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, wendete ihren Kopf und erblickte den hämisch grinsenden Harm. Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Kreidebleich sprang sie auf, ließ dabei ihren Freund zu Boden gleiten und stürzte sieh auf den feigen Unhold. Voller Wut zerkratzte sie ihm das Gesicht und schrie immer wieder: „Mörder! Du Mörder!" Das Schreien hörte erst auf, als Harm sie ins Gesicht geschlagen hatte und sie bewusstlos neben Henning niedergesunken war.
„Dumme Gans!" murmelte Harm. „Du glaubtest wohl, du könntest mich zum Narren machen."

Langsam kehrte bei Engel das Bewusstsein zurück. Verstört blickte sie um sich. "Als sie den Mörder sah, der mit blutverschmiertem Gesicht auf dem Eichenstamm saß, sprang sie auf und stürzte sich auf ihn. Aber der ergriff sie, zerrte sie auf seinen Schoß und sagte kalt: „Hör zu, du Närrin! Henning ist tot. Ihn kannst du nicht mehr heiraten. Nun wirst du meine Frau, wenn nicht, dann …" Eine entsprechende Handbewegung beendete den Satz.
Engel versuchte verzweifelt, sich aus der Umklammerung zu befreien. Aber es gelang ihr nicht. Ungerührt sprach er weiter: „Ich habe schon so viele umgebracht, dass es mir gar nichts mehr ausmacht, eine mehr oder weniger ins Jenseits zu schicken. Keiner wird erfahren, was ich mit dir hier mache. Der Tote Kolk ist tief und schweigt.
Und die Bäume und Vögel ringsumher werden auch nichts verraten. Ich frage dich nun zum letzten Mal: willst du meine Frau werden? " Engel biss die Zähne zusammen und schwieg. „Antworte", schrie er voller Wut, „antworte!" Und dabei schüttelte er sie wie eine Strohpuppe.
Was sollte sie antworten? Ihre Lage war verzweifelt, doch dann hatte sie brauchbare Idee. „Hör auf, hör endlich auf mit deiner gemeinen Schüttelei", rief sie und, als er die Umklammerung lockerte, sagte sie mit einer eigenartigen Betonung: „Ich werde dich heiraten. Aber deine Frau werde ich nie."

Harm lachte und meinte ironisch: "Darüber reden wir später. - Aber das merke dir: Wenn du im Dorf erzählst, was hier geschehen ist, dann geht euer Hof in Flammen auf, und dich werde ich anzeigen als Hexe, die hier auf dem Eichenstamm mit dem Satan gebuhlt hat. Als Beweis führe ich dann den Abdruck des glühenden Hufeisens an, das du hier in der Baumrinde sehen kannst." Engel sah ihn verächtlich an und sagte: „Von dir kann selbst der Teufel noch etwas lernen."
Eine unheimliche Ruhe war über sie gekommen. Furchtlos wandte sie sich von ihm ab, kniete an Hennings Seite nieder und wischte ihm mit ihrem Schaltuch das Blut aus dem Gesicht. Dann beugte sie sich tiefer zu ihm hinunter, als ob sie ihn küssen wollte, und sagte leise:„Du bist mein, und ich bin dein, und niemals soll es anders sein. - Warte nur, bald komme ich zu dir zurück.' Nach diesen ahnungsvollen Worten faltete sie die Hände und betete still.
Als sie sich wieder erhoben hatte, und sich anschickte, nach Hause zu gehen, brüllte Harm: „Hier geblieben! Wir müssen Henning noch beseitigen!" „Wir?" entgegnete sie höhnisch, „für diese Art der Bestattung benötigt ein Kriegsheld wie du doch nicht die schwachen Kräfte eines Mädchens. Wer dir Kraft zum Morden gab, der wird dir auch helfen, deine Untat zu verschleiern. Nun, ans Werk, du Bräutigam einer unglücklichen Braut!"
Sie wandte sich ab und ging fort. Als sie sich nach einiger Zeit noch einmal umschaute, konnte sie feststellen, dass Harm den Toten an den Rand des Toten Kolkes gezogen hatte und damit beschäftigt war, ihm einen Strick um den Hals zu legen, an dem ein dicker Stein befestigt war. Sie fing wieder an zu weinen, ging dann aber mit schleppenden Schritten weiter heimwärts und betete für den, der ihr das Liebste auf Erden war.
Über dem Giesener Wald stand eine schwarzblaue Wolke, hinter der sich die Sonne versteckt hatte, um nicht den Jammer des Mädchens ansehen zu müssen.

Inzwischen hatte Harm sein Racheopfer im Toten Kolk versenkt. Er glaubte, dass nie jemand von seiner Tat etwas erfahren würde und trat ohne Gewissensbisse den Heimweg an. Er ahnte nicht, dass der bucklige Wilddieb und Schlingensteller Bertram stundenlang im Dickicht gestanden, vieles gehört und alles beobachtet hatte, was beim Toten Kolk geschehen war.

Tage und Wochen vergingen. Engel war eine andere geworden. Sie sah blass aus, hatte ihre Fröhlichkeit verloren, ließ sich nur selten im Dorfe sehen und sprach nur wenig mit Eltern, Geschwister und Freundinnen. Fragte man nach der Ursache ihres Verhaltens oder nach Hennings Verbleib, dann gab sie nur ausweichende Antworten oder sagte kurz: „Fragt doch Harm, der weiß es!"
Ja, Harm, geschwätzig wie er war, gab bereitwillig Auskunft: „Henning hat sich aus Gram darüber, dass Engel ihn nicht heiraten wollte, von den Soldaten anwerben lassen. Nun macht sich Engel darüber Gewissensbisse. Aber die Zeit heilt ja bekanntlich alle Wunden. In ein paar Monaten werde ich sie heiraten.
Man lachte darüber und erzählte Engel, was man gehört hatte. Doch diese lachte nicht, sondern sagte nur tonlos und mit Tränen in den Augen: „Ich muss ihn heiraten, aber seine Frau werde ich nie." - Einen Grund dafür gab sie nicht an.
Dasselbe sagte sie auch Harms Vater, der eines Tages zu ihren Eltern gekommen war, um zu erfahren, ob es stimme, was Harm ihm erzählt habe. Kopfschüttelnd vernahm er die eigenartige Bestätigung. Er beschwor sie, davon abzusehen. Sie wisse doch noch, was er ihr vor Wochen gesagt habe. Aber alles war vergebens. Schweren Herzens setzte man dann, weil Engel das so wollte, den Tag der Hochzeit auf Ende September fest.

Die folgenden Wochen brachten viel Unruhe ins Dorf. Immer wieder zogen Kolonnen von Soldaten, Reitern, Trossfahrzeugen und Kanonen über die Heerstraße. Schreckensbotschaften kamen aus Hildesheim, und eines Tages hieß es: die Pappenheimer belagern die Stadt. Der hin und wieder grollende Kanonendonner bestätigte die Nachricht.
In dieser Zeit traf man auf dem Stümpelhof die letzten Vorbereitungen für Engels Hochzeit. Sie selbst bemühte sich um nichts. Teilnahmslos saß sie in ihrer Kammer, blickte ins Leere und betete. Manchmal aber war sie stundenlang spurlos verschwunden. Dann saß sie beim Toten Kolk, sprach unhörbar mit Henning, der gut erkennbar auf dem Grund des klaren und kühlen Gewässers lag und nur geringe Verfallserscheinungen zeigte.
Mit Harm kam sie hin und wieder zusammen, wenn sie seinen Vater besuchte, dem die Altersbeschwerden zu schaffen machten und der von Tag zu Tag schwermütiger wurde. Ihr hoffnungsfroher Bräutigam war zurückhaltender geworden und redete dann jedes Mal, um mit ihr ins Gespräch zu kommen, von ihrer Hochzeitskrone, der Hochzeitskutsche und den prächtigen Pferden, die er gekauft hatte. Aber Engel beeindruckte das nicht und sie entgegnete darauf nur immer: ,, Na, dann ist ja alles in Ordnung."

Am Michaelistag, als in Steuerwald zwischen den Abgesandten der Stadt und dem General Pappenheim der Übergabevertrag abgeschlossen wurde, fand wunschgemäß in Groß Förste die Trauung statt. Harm hatte mit Hilfe seiner Silbertaler dafür gesorgt, dass alle Hochzeitsgäste in geschmückten Wagen zur Pfarrkirche fahren konnten. Er selbst lenkte die mit weißen Bändern und Blumen ausgestattete und mit einem Schimmel und einem Rappen bespannte Hochzeitskutsche. Darin saßen die beiden prächtig gekleideten Brautjungfern und die schlicht gekleidete Engel. Sie trug, außer einem Silberkettchen mit Kreuz, keinen Schmuck, auch keine Brautkrone. Sie hatte es abgelehnt, sie zu tragen.
Als das Hochzeitspaar die Kirche betrat, wurde es totenstill. Denn was die Gäste sahen, war eine unglückliche Braut, die mit leichenblassem Gesicht vorwärts wankte und von Harm gezogen und geschoben wurde.
Da die Orgel unbrauchbar geworden war, sangen ihre Freundinnen zaghaft das gewünschte Lied von der Liebe des Menschen zu Jesus, das einem Beerdigungslied glich.

Dann sprach der Pastor die üblichen Psalmen und Gebete und stellte schließlich die bekannte Frage: „Engel, willst du den hier anwesenden - "Aber ehe er die Frage beenden konnte, sprang sie panikartig auf und schrie mit schriller Stimme:„Nein! Nie! Nie! Er ist ja ein Mörder! Er hat Henning erschlagen und ihn - "Ein Faustschlag traf ihr Gesicht und besinnungslos brach sie zusammen. Trotz der Schreie des Entsetzens und des heillosen Durcheinanders, das entstanden war, verlor der abgebrühte Harm nicht die Nerven. Blitzschnell ergriff er Engel, stürmte mit ihr aus der Kirche und warf sie in die Hochzeitskutsche. Erst als er sich schon auf den Kutschbock geschwungen hatte, versuchten die jüngeren Männer schnell aus der Kirche zu kommen. Aber es gelang ihnen nicht, weil ein Wildschwein mit mächtigen Hauern den Ausgang versperrte. Während sie es vertrieben, raste Harm schon auf der Heerstraße nach Hasede.

Er peitschte wie ein Besessener die Pferde ein, so dass sie mit weitaufgerissenen Augen wie wahnsinnig dahingaloppierten. Nur mit großer Anstrengung gelang es ihm, sie den Lendertberg hinunterzulenken. Als er durch die Furt der lnnerste raste und die Wagenräder über die Steine holperten, krachte es bedrohlich in dem Gefährt. Aber das störte den Fahrer genau so wenig wie das Angstgeschrei des Mädchens, das aus der Ohnmacht erwacht war. Der Teufel trieb den Mörder zum Ort seiner Untat, und darum konnten ihn weder Büsche noch Sumpflöcher aufhalten.

Schließlich kam er auf den Holzweg, der zum Toten Kolk führte. Die Pferde dampften, als ob sie im kochenden Wasser gebadet hätten. Sie fingen an zu straucheln. Der Wagen wackelte hin und her und krachte wenige Ellen vor dem Gewässer mit dem rechten Vorderrad gegen einen am Wege liegenden Eichenstamm. Es zerbrach. Die Pferde kamen vom Wege ab und stolperten. Aber mit eiserner Hand riss Harm sie wieder hoch, so dass sie sich in Todesangst auf die Hinterbeine stellten, ausrutschten und rückwärts auf die Kutsche fielen, die sich schon kurz zuvor mit einem Ruck auf die Seite gelegt hatte. Engel wurde in hohem Bogen aus dem Wagen geschleudert, überschlug sich mehrmals, bekam einen Herzschlag und ertrank. Harm rief in seiner Verzweiflung noch zweimal ,,Jesu" dann zerquetschten ihn die Pferde, und er stürzte mit dem Wagen in die Tiefe. Die unmenschlich gepeinigten Tiere folgten ihm und fanden in dem kalten Wasser ebenfalls den Tod.

Bertram, der Wilddieb, der seine ausgelegten Schlingen untersuchen wollte, war ungewollt Augenzeuge des Unglücks geworden. Er bahnte sich einen Weg durch das Unterholz zum Toten Kolk. Hier war von Menschen, Tieren und dem Wagen in dem trübe gewordenen Wässer nichts mehr zu sehen. Nur ein paar Bretter und ein Blumenstrauß schwammen auf der Oberfläche. Aus der Tiefe stiegen an einer Stelle rote Luftblasen empor, die unhörbar zerplatzten und bewirkten, dass sich langsam ein roter Schleier auf der Wasserfläche ausbreitete.

Ringsum war eine feierliche Stille. Bertram eilte nun, so schnell erkonnte, zum Dorf. Bei der Innerstefurt kam ihm ein junger Reiter entgegen und fragte: „Hast du die Hochzeitskutsche gesehen?" Der Bucklige nickte und erzählte, was er beobachtet hatte. Dann zogen sie gemeinsam durch die Lange Straße, über den Thie, wo die Dorfbewohner in Gruppen zusammenstanden und aufgeregt miteinander redeten, und schließlich zum Stümpelhof.
Hier wurden die beiden Männer von den Versammelten umringt und mit Fragen überschüttet: „Habt ihr sie gesehen? Habt ihr sie gefunden? Was ist mit ihnen geschehen?"

Langsam fing Bertram an zu sprechen, erzählte alles was er gesehen und gehört hatte, und berichtete auch von Hennings Ermordung. Dann beendete er seine Erzählung mit den Worten: „Ihr wisst alle, dass ich ein Wilddieb bin, seit ich die durchgehenden Pferde aufgehalten habe und dann nicht mehr arbeiten konnte. lch fange Rehe und Hasen in ‚Schlingen, damit meine Famille nicht hungern muss. Aber einen Menschen zu erschlagen, das könnte ich nicht. Das schafft nur ein Mann, der im Kopf krank oder vom Teufel besessen ist."

Die Wirkung seiner Erzählung war erschütternd. Überwältigt von Trauer und Entsetzen fielen sich Männer und Frauen in die Arme und weinten. Als aber das Jammern und Wehklagen kein Ende nehmen wollte, erhob sich Harms gramgebeugter Vater und sagte mit lauter und ungebrochener Stimme:„Lasset uns beten für Engel und Henning, die so gern ein Hochzeitspaar geworden wären, aber wegen Eifersucht und Brutalität eines anderen einen furchtbaren Tod gefunden haben. Herr, gib ihnen die ewige Ruhe! - Erbarme dich aber auch meines Sohnes Harm, der eine unfassbare Schuld auf sich geladen bat. Möge sein letztes Wort "Jesu" der Schlüssel sein, der auch ihm dereinst den Himmel öffnet. Amen."
Nach dem Gebet trat eine eigenartige, fast feierliche Ruhe ein. Gesprochen wurde nur noch im Flüsterton. Essen und Trinken, reichlich vorhanden, wurden an die Armen im Dorfe verteilt. Besonders Bertram wurde reich beschenkt. So endete eine Hochzeitsfeier, die keine war. Als die geladenen Gäste auseinandergingen, hielt Harms Vater einen jungen Mann am Ärmel fest und sagte: „Komm morgen zu mir! Ich gebe dir dann eine Kiste, und die bringst du zum Pastor nach Groß Förste." Über den Inhalt machte er keine Angaben.

Am späten Nachmittag gingen noch einige junge Männer mit Stangen und Leitern unaufgefordert zur Unglückstelle und versuchten, die Toten zu bergen. Aber aufgrund der Tiefe und Kälte des Gewässers sowie des plötzlich einsetzenden Wolkenbruches blieben alle ihre Bemühungen ohne Erfolg.

Am nächsten Morgen versammelten sich, wie verabredet worden war, bei hellem Sonnenschein die Angehörigen der Toten und ein großer Teil der Dorfbewohner auf dem Thie. Auch Hennings Familie und der Pastor, die man benachrichtigt hatte, waren erschienen. Als die alte Glocke im Türmchen der Andreaskapelle anfing zu läuten, setzte sich der Trauerzug mit einem Gesang für die Verstorbenen in Bewegung. Als er den Lendertberg erreicht hatte, donnerten plötzlich Kanonenschüsse von Hildesheim herüber, und alle Kirchenglocken der Stadt fingen an zu läuten: Pappenhelm hielt nach leicht errungenem Sieg mit seinen Truppen feierlichen Einzug in die Bischofsstadt. Aber die Haseder dachten: „Alles geschieht zur Ehre Engels und Hennings, die nun im Himmel Hochzeit feiern".

Nach einiger Zeit erreichte die Spitze des Trauerzuges auf schmalen Wegen den Toten Kolk. Zögernd näherten sich der Pastor, Engels und Hennings Eltern und Geschwister sowie Harms Vater der blanken Wasserfläche. Plötzlich stieß Engels Mutter einen markerschütternden Schrei aus und zeigte weinend auf das Gewässer. Und nun sahen es alle, auch die mitleidig nachdrängenden Dorfbewohner: In der Tiefe lag Henning lang ausgestreckt auf dem Rücken. Um seinen Hals war ein Strick gebunden, an dem ein dicker Stein befestigt war. Auf seiner Brust ruhte Engel mit aufgelöstem Haar und angewinkelten Beinen, niedergedrückt von einem Teil der eisenbeschlagenen Wagendeichsel. Von Harm war nichts zu sehen. Die umgestürzte Kutsche lag auf ihm wie ein Sargdeckel. Daneben waren die Pferde mit verrenkten Beinen zu erkennen. Das eine war weiß wie die Unschuld, das andere schwarz wie die Trauer, der Tod und das Verbrechen, -
Das Glockengeläut war verstummt, Ruhe war eingetreten, eine Stille, die mahnte, erschütterte und aufrüttelte wie eine Predigt über die vier letzten Dinge: Tod, Gericht, Hölle und Himmel.

Doch plötzlich war eine helle Kinderstimme zu hören, Agnes, Engels kleine Schwester sagte: „Mutter, weine doch nicht mehr! Engel und Henning sind doch im Himmel und feiern Hochzeit. Da dürfen wir doch nicht weinen. Da müssen wir Blumen streuen!" Sie dreht sich um und rief: „Los, kommt her!" Und es drängelten sich ein Dutzend Mädchen an den Rand des Toten Kolkes, zupften die Blütenblätter von den mitgebrachten Blumen ab und warfen sie auf die Wasserfläche. Der aufkommende Wind trieb sie dorthin, wo die jungen Toten lagen.

Nachdem der Pastor mehrere Gebete gesprochen und mit den Trauernden ein Lied gesungen hatte, gab er den Lebenden und Toten den Segen und bat zum Schluss die Anwesenden, am nächsten Morgen zum Requiem in die Andreaskapelle zu kommen.
Die Sonne verkroch sich hinter einer dicken Wolke. Der Wind verstärkte sich und kräuselte die Wasserfläche, so dass Engel und Henning nur noch schwach zu erkennen waren. Langsam ging die Trauergemeinde auseinander und trat in Gruppen den Heimweg an.

In Hildesheim fingen die Glocken wieder an zu läuten. Ihr Singen und Klingen, ihr Tönen und Dröhnen sollten den Frieden verkünden. Aber das Geschrei eines Krähenschwarms, der über den Haseder Busch zur Stadt flog, verhieß nichts Gutes. Der Friede dauerte nicht lange. Schon bald wurde Hildesheim wieder belagert. Dieses Mal von den Braunschweigern und ihren Verbündeten. 1634 erzwangen sie die Übergabe der Stadt.

In dieser Zeit wurden die umliegenden Dörfer - um Hasede - immer wieder vom Kriegsgeschehen heimgesucht. Häuser und Kirchen wurden geplündert, verwüstet oder angezündet.
In der Langen Straße, die heute Kleine Straße genannt wird, verschwanden der Kathreinenhof, der Wolfs- und der Heinekenhof, dessen Grundfläche heute als Weide dient. Noch in der Landschatzbeschreibung von 1665 werden 16 Höfe als wüst angegeben.

Diese und alle anderen Angaben über den Verlauf des Krieges entsprechen der geschichtlichen Wahrheit. Dagegen sind die Personen, ihre Namen und Handlungsweisen frei erfunden. Nur das Unglück mit der Hochzeitskutsche scheint wirklich geschehen zu sein. Denn:

Noch heute spricht man hier im Volke
Vom Hochzeitspaar im Toten Kolke.
Doch wie es hieß, wann es mit Wagen
ins Wasser fiel, kann niemand sagen.

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